ZEIT Online: Wenn Kinder im Kindergarten Erste Hilfe lernen

Kindergartenkinder sind nicht stark genug, um jemanden wiederzubeleben. Doch sie sollten Erste Hilfe lernen – weil sie hemmungslos zupacken
von Sina Horsthemke

 

Auf dem Teppich im Kindergarten liegt leblos ein kleines Mädchen. Die Augen geschlossen, Arme und Beine von sich gestreckt, keinen Mucks von sich gebend. Felicia spielt ihre Rolle gut. Selbst als ihre Freundin Rosi sie an den Schultern packt und schüttelt, verzieht die Fünfjährige keine Miene. „Hallo? Hörst du mich?“ Nichts. Rosi weiß, was nun zu tun ist. Mit beiden Händen bewegt sie vorsichtig Felicias Kopf nach hinten und legt der Freundin ein Ohr an die Lippen. Erleichtert blickt sie auf: „Zum Glück, sie schnauft noch.“ Rosi nimmt Felicias Hand, legt sie ihr an die Wange, greift danach ans Bein, stellt geschickt das Knie auf und dreht ihre reglose Freundin mit einem beherzten Schwung auf die Seite. „Fertig!“, lacht sie. Stimmt: Genauso sieht die perfekte stabile Seitenlage aus.

In Bayern lernen viele Kinder Erste Hilfe, schon bevor sie in die Schule kommen. „Trau-Dich!“ heißt das Programm, welches das Bayrische Rote Kreuz speziell für Vier- bis Sechsjährige entwickelt hat. Spielerisch lernen die Kleinen dabei, wie sie Schnitt- und Brandwunden versorgen, Beulen kühlen oder einfach Hilfe holen. Sonja Hieber, Vorsitzende des Bayrischen Jugendrotkreuzes, ist sich sicher: „Kinder können zum Teil besser als Erwachsene Erste Hilfe leisten. Sie haben einfach keine Hemmungen.“

So wie Jakob, ein Sechsjähriger aus der Gruppe von Felicia und Rosi. Als es um Fremdkörper in Wunden geht, ruft er aufgeregt in den Raum: „Die Tochter von der Heike hatte schon mal einen Stock im Auge!“ Dass man den nicht einfach rausziehen darf, lernen die Kinder im Kurs von der Handpuppe Solfi. „Sie führt durchs Programm, die Kinder sehen sie als Freundin“, erklärt Birgit Geier. Die Erzieherin leitet den Kindergarten, an dem heute der Kurs stattfindet, und hat das Erste-Hilfe-Training für die Kleinen mitentwickelt. „Hingehen, trösten und Hilfe holen sind die wichtigsten Dinge, wenn man erste Hilfe leistet. Und das können auch Kinder. Je früher sie es lernen, desto selbstverständlicher wird es für sie als Erwachsene, im Notfall richtig zu reagieren.“

 

Erwachsene haben Angst zu helfen

Nur jeder dritte Erwachsene, das ergaben Studien, kann im Notfall richtig helfen. Die meisten schätzen sich selbst nicht als gute Ersthelfer ein. Sie haben Angst, etwas falsch zu machen oder das Opfer zu verletzen – und tun dann lieber gar nichts. Das ist jedoch das Schlimmste, was einem Verunglückten passieren kann. Denn bei einem Herzstillstand beispielsweise, den in Deutschland jedes Jahr rund 50.000 Menschen erleiden, zählt jede Minute. Mit jeder, die tatenlos verstreicht, verringert sich die Überlebenschance des Betroffenen um zehn Prozent. Würden sich mehr Angehörige oder Passanten eine sofortige Herzdruckmassage zutrauen, könnten täglich 27 Menschenleben gerettet werden.

Kindergarten- und Grundschulkinder sind noch zu klein, um einen Erwachsenen wiederzubeleben. Das ist erst ab der siebten Klasse sinnvoll. Vorher reicht die Kraft nicht aus, um den Brustkorb eines Bewusstlosen immer wieder so weit einzudrücken, dass dessen Herz erneut zu schlagen beginnt. Auch erfolgreiches Beatmen wäre durch kleine Kinder nicht möglich. Doch sie können Hilfe holen und einen Notruf absetzen – wenn sie wissen, wie das geht. Altruismusforscher konnten zeigen, dass Kinder eine höhere Motivation und weniger Hemmungen haben als Erwachsene, wenn es ums Helfen geht.

 

Pflasterschneiden mit stumpfen Scheren

Im Kurs des bayrischen Kindergartens soll heute neben der stabilen Seitenlage das Versorgen von Schnittwunden geübt werden. Die elf Kinder sitzen kichernd aber konzentriert auf bunten Stühlen im Halbkreis. Mit stumpfen Scheren – schließlich soll sich niemand wirklich verletzen – schneiden sie Pflasterstücke so in Form, dass man sie wie Hütchen über eine verletzte Fingerkuppe kleben kann. „Die Fiona kriegt es nicht hin!“ ruft ein blondes Mädchen belustigt und zeigt lachend auf ihre Nachbarin. Sie nimmt der Kleineren die Bastelschere aus der Hand. „Komm, ich helfe dir.“

Helfen – das können Kinder früh. Schon mit vier Jahren, so fanden norwegische Wissenschaftler heraus, sind sie in der Lage Hilfe zu leisten. Und erinnern sich selbst Jahre später an das Gelernte. „Erste-Hilfe-Training sollte im Kindergarten beginnen“, so das Fazit der Forscherinnen und Forscher. „Denn es kann passieren, dass Kinder die einzigen sind, die in einer Notfallsituation anwesend sind.“

Die Kinder im Kurs sollen sich nun vorstellen, sie seien mit ihrer Mutter im Supermarkt und vor ihnen bräche eine Frau zusammen. „Die Frau fällt einfach um und sagt nichts mehr“, erzählt Erzieherin Geier und die Kleinen bekommen große Augen. „Was macht Ihr dann?“ Noel, einer der Älteren aus der Gruppe, streckt den Zeigefinger in die Luft und wippt aufgeregt auf seinem Stuhl auf und ab. Er kennt die Antwort: „Mund-und-Mund-Geatme!“ „Nein“, korrigiert Rosi ihn, „Mama holen!“ Noel sieht das ein. „Auch Salbe draufschmieren macht lieber die Mama.“

In vielen europäischen Ländern, etwa in Belgien und Dänemark, steht Erste Hilfe spätestens in der Sekundarstufe im Schul-Lehrplan. Auch Großbritannien arbeitet an einem Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass Grundschulkindern basale Erste-Hilfe-Maßnahmen beigebracht werden. Die Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen sollen in Zukunft die Reanimation, also Beatmung und Herzdruckmassage, üben.

 

Bessere Überlebensrate in Dänemark

In Deutschland lernen viele Menschen das Helfen immer noch erst dann, wenn sie den Führerschein machen. Die Folge: Verglichen mit Norwegen, Schweden oder den Niederlanden leiten Laien hierzulande viel seltener Wiederbelebungsmaßnahmen ein. Dabei könnte eine größere Anzahl ausgebildeter Ersthelfer einiges bewirken. In Dänemark beispielsweise hat sich die Überlebensrate seit der Einführung von Erste-Hilfe-Training an Schulen im Jahr 2005 mehr als verdoppelt.

Obwohl klar ist, dass Kinder einmal gelernte Erste-Hilfe-Maßnahmen noch Jahre später umsetzen können und sie dadurch zu selbstbewussteren Ersthelfern werden, ist Deutschland spät dran mit der Ausbildung seiner Laienretter: Erst 2014 empfahl der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz, das Thema Reanimation in die Lehrpläne für weiterführende Schulen aufzunehmen. Als eines der ersten Bundesländer hat das Saarland die Vorschläge Ende 2017 umgesetzt.

In Bayern hat sich das Ausbilden der Kindergartenkinder längst bewährt, berichtet Sonja Hieber, die Vorsitzende des Jugendrotkreuzes. „Einmal wurde hier im Landkreis eine Mutter zu Hause ohnmächtig. Sie war mit ihrem fünfjährigen Kind allein zu Haus und das rief den Notarzt und rettete sie so.“ Erst zwei Tage vorher war es im Kurs gewesen.