ZEIT ONLINE: Krank ohne Krankenversicherung

Tausende Menschen in Deutschland sind nicht krankenversichert. Oft gehen sie nicht zum Arzt, obwohl sie schwer krank sind. Wie kann das sein? Und wer hilft ihnen?

von Sina Horsthemke

Selbst mit Krücken hat Johann Obermüller Mühe zu gehen. Sein Gesicht ist eingefallen, der Körper gebeugt. An Händen und Armen sind Knoten unter der Haut zu sehen, die Gelenke der Hände sind geschwollen, die Finger schon nicht mehr ganz gerade. Es ist nicht einfach, das Alter des Bäckermeisters, der eigentlich anders heißt, zu schätzen. „Durch meine Krankheit schaue ich wohl aus wie 90“, sagt er. Dabei ist er erst 67. „Vor zehn Jahren schleppte ich in der Bäckerei 100-Kilo-Säcke. Heute kann ich nicht mal mehr eine Flasche Cola aufmachen.“

Obermüller leidet seit drei Jahren unter einer Rheumatoiden Arthritis. Dass sie so schnell vorangeschritten ist, liegt daran, dass er die Erkrankung nicht behandeln lassen kann: Der Bäcker, der 30 Jahre lang ein Café betrieb, hat keine Krankenversicherung, die die Kosten für die Therapie übernimmt. Seit 2012 ist sein Betrieb, der einmal 50 Mitarbeiter hatte, insolvent. Obermüller hat Schulden und kann kaum seine Miete bezahlen – geschweige denn den Beitrag für seine private Krankenversicherung.

„Als ich mich selbstständig machte, empfahlen mir alle, zu einer privaten Krankenkasse zu wechseln“, berichtet Obermüller. „Das war mein größter Fehler.“ Obwohl der 67-Jährige wegen der Insolvenz seit Jahren kein Einkommen hat, sind seine Versicherungsbeiträge höher denn je: 790 Euro müsste er jeden Monat bezahlen – von 630 Euro Rente. Weil er die Summe nicht aufbringen kann, macht er laufend Schulden bei seiner Versicherung, die ihm deshalb fast alle Leistungen gestrichen hat. Zurück in eine gesetzliche Krankenkasse kann Obermüller nicht mehr: Nur bis 55 ist das möglich.

Im Land der Pflichtversicherungen haben Zehntausende keine Krankenversicherung

Wie dem Bäcker geht es vielen: Laut Statistischem Bundesamt hatten 2019 rund 61.000 Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung. Nichtregierungsorganisationen schätzen die Zahl all jener, die dringend nötige Therapien nicht bekommen, sogar als deutlich höher ein. Aber wie kann es sein, dass in Deutschland, einem Land, das auf sein Sozial- und Gesundheitssystem stolz ist, so viele Menschen durch das Raster fallen? Dass mitunter schwer kranke Menschen von Ärzten abgewiesen werden, dass sie frühzeitig versterben oder wie Johann Obermüller Behinderungen davontragen, die vermeidbar gewesen wären? Die Antwort darauf ist kompliziert und hat viel mit Bürokratie zu tun.

Einer der Gründe ist ein neues Gesetz, das im Januar 2019 in Kraft trat: das GKV-Versichertenentlastungsgesetz. Es sollte Selbstständige mit geringem Einkommen und Rentner entlasten, bewirkt aber auch, dass gesetzliche Krankenversicherungen „Karteileichen“ abstoßen. Sie trennen sich – so ist es vorgeschrieben – von all jenen Versicherten, die ihre Beiträge nicht bezahlen, keine Leistungen in Anspruch nehmen und zu denen sie keinen Kontakt herstellen können. „Das neue Gesetz führt oft dazu, dass Menschen aus ihrer Krankenkasse entlassen werden, ohne überhaupt davon zu erfahren“, sagt Stephanie Kirchner, Pressereferentin der Hilfsorganisation Ärzte der Welt, die Betroffenen hilft.

Wer Kirchner fragt, welche Menschen in Deutschland nicht ausreichend krankenversichert sind, dem nennt sie vor allem drei Gruppen: „Da sind die Selbstständigen, die bei privaten oder gesetzlichen Krankenversicherungen Beitragsschulden haben, oder EU-Bürger, die in Deutschland eine Arbeit suchen oder prekär beschäftigt sind. Und dann betrifft es noch all jene, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben.“

Zu ihnen gehört Borko aus Montenegro, der seinen echten Namen lieber für sich behalten möchte. Er kam vor 26 Jahren nach Deutschland, hat weder Arbeit noch Krankenversicherung und lebt auf der Straße. Als er eine Hepatitis B bekam und in der Folge eine Leberzirrhose, suchte der 53-Jährige mit unerträglichen Bauchschmerzen bei Ärzte der Welt Hilfe. Er konnte kaum gehen, hatte Fieber, Bluthochdruck und einen zu hohen Puls, berichtete, dass er sich nach jedem Essen übergeben müsse. Später fanden die Ärzte bei ihm lebensbedrohliche Blutungen in der Speiseröhre. Gesundheitliche Probleme hatte Borko schon lange vorher. Zum Arzt ging er nicht: „Ich konnte das gar nicht finanzieren. Wie kann man zum Arzt gehen, wenn man nicht versichert ist?“ Der Gesundheitsreport 2019 der Ärzte der Welt bestätigt: 60 Prozent der Menschen ohne Krankenversicherung haben in den vergangenen zwölf Monaten auf medizinische Hilfe verzichtet, obwohl sie krank waren.

„Ich war nicht mehr gern gesehen in den Praxen“

Schwerkranke oder Verletzte, die in ihrer Not ein Krankenhaus betreten, dürfen in Deutschland eigentlich nicht weggeschickt werden. „Ist wie bei Borko kein Geld vorhanden, muss die Klinik aber erst einmal in Vorleistung gehen – auf die Gefahr hin, auf den Behandlungskosten sitzen zu bleiben“, erklärt Kirchner. „So füllen Ärztinnen und Ärzte quasi eine Gesetzeslücke.“

Unter Lücken in der Versorgung, berichtet die Pressereferentin der Ärzte der Welt, litten vor allem Menschen, die Schwierigkeiten haben, mit ihrer Krankenversicherung zu kommunizieren, „weil sie wohnungslos sind, psychische Probleme haben oder die deutsche Sprache nicht beherrschen. Schließt die Versicherung sie zum Beispiel aufgrund des neuen Gesetzes aus, sehen sie sich mit hohen bürokratischen Hürden konfrontiert.“ Dazu komme, dass Betroffene die Beiträge bei Wiedereintritt rückwirkend nachzahlen müssen. Kirchner: „Es haben sich also Schulden angehäuft, obwohl sie gar keine Leistungen in Anspruch genommen haben.“

Kommunikationsschwierigkeiten hat Johann Obermüller, der Bäckermeister aus Bayern, nicht. Er hätte früher oft versucht, mit seiner Krankenversicherung in Kontakt zu treten, berichtet er. „Immer wenn ich anrief, wurde ich von einer Abteilung zur nächsten durchgestellt und am Ende hat sich nichts geändert.“ Vor einigen Jahren konnte er immerhin erreichen, dass ihn seine Versicherung in einen Notlagentarif stufte. Das ist ein Tarif für Privatversicherte in einer finanziellen Notlage, der ihnen die Möglichkeit geben soll, Beitragsrückstände auszugleichen. Nur noch 150 Euro musste Obermüller von da an monatlich bezahlen – für den insolventen Bäcker eine Erleichterung. Doch der Tarif hat einen Haken: Er umfasst nur die Notfallversorgung, greift etwa bei Verkehrsunfällen oder Stürzen. Für die Behandlung einer chronischen Erkrankung kommt die Krankenkasse nicht mehr auf.

Bei Johann Obermüller machte sich die Rheumatoide Arthritis das erste Mal vor drei Jahren mit starken Gelenkschmerzen bemerkbar – als er längst den Notlagentarif nutzte. Zunächst ging er wie üblich zum Arzt. Aber die Kasse bezahlte die Rechnungen nicht mehr und Obermüller bekam mit den Ärzten Probleme: „Ich war nicht mehr gern gesehen in den Praxen.“

Mittlerweile gibt es Medikamente gegen Rheuma, welche die Krankheit bei vielen Patienten zum Stillstand bringen. Das funktioniert aber nur, wenn die Patienten sie regelmäßig einnehmen. Eine Weile lang hat Obermüller die 100 Euro, die monatlich für Methotrexat, Kortison, eine Magentablette, Folsäure, Vitamin D und ein Schilddrüsenmedikament anfielen, noch selbst bezahlt. Doch dann begann die Krankenkasse das Pflegegeld, das er wegen seiner Einschränkungen bekam, mit den Beitragsschulden zu verrechnen. Obermüller ging das Geld aus – und er ließ die Medikamente weg.

Inzwischen hat Obermüller, weil er seine Beiträge nicht bezahlen konnte, rund 10.000 Euro Schulden bei seiner Krankenkasse. „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Die Krankenversicherung verweigert jede Leistung und verrechnet alles mit meinen alten Schulden.“ Dass er jemals Maßnahmen wie Physio- oder Ergotherapie nutzen wird, auf die Versicherte mit rheumatischen Erkrankungen Anspruch haben, hat Obermüller längst abgeschrieben. „All das hatte ich nie und werde es mir niemals leisten können.“

Weil die Gelenkbeschwerden ohne Medikamente immer schlimmer wurden, hat sich der Bäckermeister im Sommer an open.med gewandt. Die Münchner Anlaufstelle der Ärzte der Welt bietet Nichtversicherten kostenlos und anonym ärztliche Hilfe an. Es gibt wie bei einem Hausarzt oder einer Hausärztin einen Wartebereich und ein Behandlungszimmer, dazu wöchentlich feste Sprechstunden für Kinder, chronisch und psychisch Erkrankte. Mit Lappalien kommen die Menschen selten hierher: Ein Drittel der Menschen, die zum ersten Mal herkommen, braucht dringend eine Behandlung. Genauso viele bewerten den eigenen Gesundheitszustand als „schlecht“ oder „sehr schlecht“.

„Zwei Stunden später wäre er tot gewesen“

Bäckermeister Obermüller traf bei open.med auf Cevat Kara. Der Projektleiter riet ihm, beim Sozialamt einen Antrag auf Hilfebedürftigkeit zu stellen, damit die Krankenkasse das Pflegegeld nicht einbehalten darf. „Wenn das klappt, könnte ich mir den Beitrag wieder leisten“, so Obermüller – und seine Versicherung müsste die Behandlungskosten für sein Rheuma übernehmen.

Egal, ob Betroffene privat, gesetzlich oder nie versichert waren: Die Mitarbeiter von open.med versuchen, sie wieder ins System zu bringen – und sie ganz normal bei einer Krankenkasse zu versichern, die ihre Behandlungskosten in vollem Umfang übernimmt. „Bei schätzungsweise zehn Prozent pro Jahr gelingt uns das“, so Projektleiter Kara. Der 45-Jährige betreut viele Klienten, die schon seit Jahren nicht versichert sind: Tagelöhner, Taxiunternehmerinnen, Kneipenbetreiber oder Friseure, die Geld sparen mussten, um zu überleben. „Sie waren jung und gesund und hatten ganz andere Sorgen – und dann kam eine Krankheit“, sagt Kara.

Während sich die einen Mitarbeiter von open.med mit den Behörden auseinandersetzen, kümmern sich die anderen um die gesundheitlichen Probleme der rund 800 Patienten pro Jahr: Ärztinnen, Ärzte und Medizinstudierende, die in der Anlaufstelle Dienst haben, sowie Fachärzte im Umkreis, die in ihren Praxen kostenlos Hilfe anbieten. „Trotzdem können wir dem Problem nicht Herr werden“, sagt Kara. Der Projektleiter geht davon aus, dass die jüngst veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamts viel zu niedrig sind: „Es gibt in Deutschland allein rund 500.000 Menschen ohne Papiere, die keine Krankenversicherung haben.“ Dazu kämen Versicherte mit „ruhenden Leistungen“ wie Johann Obermüller und all jene, die noch nie versichert waren, weil sie etwa Geld sparen mussten. Kara: „Allein in München gehen wir von mehreren Tausend Menschen ohne Krankenversicherung aus.“

Oft weigert sich der Rettungsdienst Patienten ohne Versicherung mitzunehmen

Projektleiter Kara macht das System dafür verantwortlich: „Das Versichertenentlastungsgesetz müsste überdacht werden. Ich wäre zudem für ein einheitliches Versicherungssystem – ohne den Unterschied zwischen privater oder gesetzlicher Versicherung.“ Menschen, die Schulden aufgebaut hätten, müssten diese realistisch abbauen können, statt wie Bäcker Obermüller in einen Teufelskreis zu geraten, sagt Kara: „Sonst trifft es ausgerechnet die Schwächsten in diesem überbürokratischen System.“

Auch wenn die Mitarbeiter von open.med vielen helfen können: Stehen Operationen an, benötigt jemand eine dauerhafte Therapie oder schwebt gar in Lebensgefahr, geraten sie an ihre Grenzen. Manchmal rufen sie den Rettungsdienst. Oft müssen sie dann mit den Sanitäterinnen und Sanitätern diskutieren, sagt Kara. Als seine Kollegen einmal den Notarzt riefen, weil ein Klient mit Verdacht auf Herzinfarkt Hilfe brauchte, fragten die Sanitäter zuerst nach der Versicherung. Kara regt das immer noch auf: „Das ist doch in dem Moment so was von zweitrangig.“

Auch Borko aus Montenegro hatte zuerst keine Klinik aufnehmen wollen, obwohl sein Zustand kritisch war. „Wir haben ihn dann mit dem Taxi ins Krankenhaus gebracht“, sagt Kara. Und dann musste alles ganz schnell gehen. Unter Narkose stoppten Chirurgen die Blutungen in der Speiseröhre und punktierten Borkos Bauchhöhle, wo sich bereits Flüssigkeit angesammelt hatte. „Der Arzt meinte, zwei Stunden später wäre er tot gewesen“, berichtet Kara.

Weil das Team von open.med versucht, sich um jeden zu kümmern, sind die Patienten oft sehr dankbar. „Wir bekommen viel zurück“, sagt Marianne Stix. Die Allgemeinärztin übernimmt hier zweimal pro Monat ehrenamtlich Sprechstunden. „Ich mache das, weil es mir im Gegensatz zu vielen anderen gut geht“, sagt sie. Das Sprechzimmer, in dem Stix ihre Patienten empfängt, ist ausgestattet wie eine Hausarztpraxis. Es gibt ein Ultraschall- und ein EKG-Gerät, einen Stuhl für frauenärztliche Untersuchungen und ein Gerät, um die Lungenfunktion zu testen.

Heute hat die Ärztin in der Chroniker-Sprechstunde von open.med auch Johann Obermüller mit seiner Rheumatoiden Arthritis behandelt. „Er ist dringend auf eine dauerhafte Medikation angewiesen, damit sich die Erkrankung nicht weiter verschlechtert und er im Alltag selbstständig bleibt“, sagt Stix. Erzählt Marianne Stix ihren Bekannten, was sie bei open.med mache, dann glauben die ihr oft nicht: In Deutschland soll es Menschen ohne Krankenversicherung geben? Das kann doch nicht sein.

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